GESCHICHTEN VOM OKTOBERFEST
5.
Am nächsten Tag bringt Anton das lila Dirndl zurück. Es riecht nach Renate und ein wenig nach Bier. Er läutet nach der Schule an ihrer Haustür. Sie öffnet ihm. Sie ist blass und ihre Haare hängen ihr ins Gesicht. Müde blickt sie Anton an: „Ach ja mein Dirndl. Danke. Hier deine Lederhose und dein Hemd.“ Sie nimmt das Dirndl, öffnet den Garderobenschrank, holt einen blauen Plastikbeutel und überreicht ihn Anton. Sie sagt: „Tschüss“ und schließt schnell die Tür. Anton bleibt für ein paar Sekunden stehen. Er sieht, wie sich Renates Konturen hinter dem Milchglas der Tür auflösen. Dann dreht er sich um und blickt auf die roten und gelben Dahlien im Vorgarten. Er reißt eine Blüte ab und wirft sie gegen das Haus.
Mit dem Fahrrad rast er nach Hause , läuft mit der blauen Tüte an seiner Mutter vorbei. In seinem Zimmer zieht er sich die Lederhose und das Hemd an. Er legt sich auf sein Bett, starrt an die Decke und weiß nicht, was er jetzt tun soll. Er rennt aus seinem Zimmer. Seine Mutter kommt ihm entgegen. Er fragt sie: „Kannst du mir fünfzig Euro leihen? Du bekommst sie morgen wieder. Da habe ich dann das Geld fürs Zeitungsaustragen.“ „Ja“, willigt sie ein, „aber morgen liegt das Geld auf dem Küchentisch.“ Sie holt aus einer alten Keksdose einen fünfzig Euro Schein und überreicht ihn Anton. Ein kurzes „Danke“. Schnell verlässt er das Haus und fährt mit seinem Fahrrad zur Theresienwiese. Er nimmt nicht wahr, dass sich am abendlichen Himmel dunkle Wolken zusammengedrängt haben. Auch die ersten Regentropfen auf seiner Haut spürt er nicht. Vor dem Eingang sperrt er sein Fahrrad ab und hastet durch den Regen. Auf den Straßen zwischen den Fahrgeschäften haben sich schnell Pfützen gebildet. Die Lichter der Fahrgeschäfte bilden ölige Schlieren. Die Menschen flüchten in die Bierzelte oder in die U-Bahnschächte. Im Hofbräuzelt bestellt Anton eine Maß Bier und trinkt sie aus, als die Kapelle “ Ich war noch niemals in New York“ spielt. Daraufhin läuft er wieder ins Freie, wo das Spiel der Lichter am Riesenrad dem kalten Regen trotzt. Anton kauft sich fünf Fahrten. Bei dem Wetter fährt kaum jemand. Er hat eine Gondel für sich. Das Rad hält an, als sich Anton ganz oben am Scheitelpunkt befindet. So wie gestern, als Renate und er nackt hier zusammen waren und er sich nicht getraut hat, sie zu berühren. Jetzt hört er nur den Regen auf das Dach der schaukelnden Gondel prasseln. Der Wind heult zwischen den Streben. So als wäre er auf einem Schiff, klitzeklein wie eine Nussschale. Anton schließt für ein paar Augenblicke die Augen. Ein Gedanke taucht auf. Er muss lachen. „So ist das also mit der Liebe und dem Kummer.“ Die Erkenntnis hat er zweifellos dem Alkohol zu verdanken.

3Robert Öttinger, Kristina Rascher und 1 weitere Person