GESCHICHTEN VOM OKTOBERFEST
7.
Anton geht jetzt jeden Abend auf das Oktoberfest. Jeden Nachmittag wirft er Renate einen Brief in den Briefkasten. In jedem Brief stehen die gleichen Worte: „Triff mich am Riesenrad um 21.00 Uhr. Ich warte auf Dich. Grüße Anton.“ Jeden Abend steht er am Kassenhäuschen und wartet. Vorher trinkt er in irgendeinem der viele Festzelte eine Maß Bier. Am Ende eines Schlagers hat er sie ausgetrunken.
Anton wartet jeden Abend vergeblich. Punkt halb zehn kauft er sich fünf Fahrten und steigt in einer der Gondeln. Er hat sich das Geld fürs Zeitungsaustragen im Voraus auszahlen lassen. Es kommt ihm vor, als würde ihn die Gondeln des Riesenrades davon tragen irgendwohin. Weg von ihm selbst, da wo seine Verliebtheit wie eine Galaxie im Weltraum schwebt. Immer wenn er unten ankommt, streift die Gondel den hölzernen Boden. Das Kratzen an seiner Seele. Das Drehen des Riesenrads mit dem nächtlichen Spiel tausender von Glühbirnen ist eine Metapher für Antons ersten Liebeskummer. Das Fahren die Illusion einer Reise weg von der Bitterkeit.
Ist nicht alles, was da unten blinkt, rattert, flitzt, leuchtet, sich aufbläht, krakeelt, verführt, zum Fürchten einlädt, berauscht, berieselt, herumwirbelt, zaubert oder tanzt eine große Maschinerie der Imagination des Ewigen und gleichzeitig aber auch eine Wahrheit, dass alles aufhört oder nie richtig begonnen hat? So wie die Liebe des achtzehnjährigen Antons zu einem Mädchen eine Klasse unter ihm?
Nach zwei Wochen ist das Oktoberfest vorbei. Anton hat Renate einen letzten Brief geschrieben, ein letztes Mal vergeblich auf sie gewartet und die letzten Runden mit dem Riesenrad gedreht.
Am Montagnachmittag fährt er mit seinem Fahrrad zur Theresienwiese. Er hört schon von Fern das Hämmern, Bohren und Schreien der Arbeiter, die Fahrgeschäfte und Bierzelte abbauen. Er sieht das Riesenrad. Die Gondeln sind bereits abgenommen. Das Gerippe aus Speichen und Streben ragt in den Himmel. Die schweren, grauschwarzen Wolken bilden den Theatervorhang, aufgerollt für irgendeine letzte Szene.